Stelle dir folgende Situation vor:
Dein Kollege kommt mal wieder zu spät zum Meeting mit dem Kunden. Zudem ist er - wie üblich - mittelmäßig vorbereitet. Zum Glück warst du überpünktlich und hast gestern noch die Präsentation perfektioniert, so dass der Kunde auf jeden Fall zufrieden sein wird. Nach dem Termin stellst du deinen Kollegen zur Rede, er hört sich dein Lamento genervt an, was dich verärgert, aber was kannst du denn noch tun? Aus deiner Sicht wird es beim nächsten Mal genauso laufen, weil du eben die Ordentliche bist und er halt der Chaot ist und immer bleiben wird.
Dein Kollege beschreibt die Situation vielleicht etwas anders.
Aus seiner Sicht reißt du ständig die Arbeit an dich und traust ihm offenkundig nichts zu. Ja, wie viel Lust soll man da noch aufbringen, sich an bunten Präsentationen abzuarbeiten, wenn es doch für die werte Kollegin eh nie gut genug ist? Eigentlich brauche er auch gar nicht zu dem Termin gehen, er sitze ja eh nur blöde rum.
Aus systemischer Sicht liegt hier ein Kreislauf vor, in dem sich die Handlungen der Beteiligten gegenseitig bedingen. Wie in den meisten Konflikten ist auch hier schwer zu sagen, wer “angefangen” hat, da beide Parteien die ursächliche Irritation beim jeweils anderen sehen.
Wenn wir uns diesen Kreislauf genauer ansehen, erkennen wir eine Struktur, in der sich die verschiedenen Aktionen aufeinander beziehen und in gewisser Weise ein eigenständiges System schaffen.
Solche Kreisläufe finden wir nicht nur in Konflikten, sondern auch in ganz anderen Bereichen wie der Biologie oder generell in Organisationen. Die Biologen Varela und Maturana nannten dieses Konzept Autopoiesis (Wikipedia) und beschrieben damit Systeme, die sich selbst erschaffen und erhalten und schützen können.
Stelle dich zur Verdeutlichung mal auf ein Bein. Was passiert da? Welche Komponenten deines Körpers helfen dir, die Balance zu halten?
Wir beginnen mit der Idee im Gehirn, dieses gibt den Auftrag an die Muskeln, diese schicken Informationen zurück ans Gehirn und ein (meist unbewusster, weil das Denken zu langsam ist) Prozess der Justierung (Gewicht etwas mehr nach links, hinten, jetzt vorne verlagern) nimmt seinen Lauf. Bis das erlösende Signal kommt: “Jetzt bitte wieder auf beide Beine stellen!”
In Organisationen erleben wir diese Prozesse ebenfalls, häufig “passieren” sie unbewusst (außerhalb unserer Wahrnehmung), doch werden sie vermehrt auch versucht gesteuert einzusetzen, z.B. in der Arbeit mit agilen Frameworks wie SCRUM. Auch hier gibt es einen Kreislauf, der das System erschafft und erhält und - wie in obigem Beispiel zu sehen war - kontinuierlich stabilisiert (bzw. optimiert, also auf der Suche nach der effektivsten und energieeffizientesten Lösung ist).
Und so schließt sich der Kreis.
Auch du hast mit deinem Kollegen einen stabilen Kreislauf geschaffen, in welchem Ihr beide bestimmte Rollen einnehmt und Verhaltensweisen zeigt (“die Verlässliche” bzw. “die Perfektionistin” und “der Chaot” bzw. “der Kreative”).
Für sich genommen ist ein solcher Kreislauf weder positiv noch negativ. Die Bewertung erfolgt durch die Beteiligten. Auch ein als negativ erlebter Kreislauf hat seine Gründe (nicht: Ursache) und birgt meist irgendeinen Nutzen für die Beteiligten: So genießt du vielleicht die Anerkennung und das Mitleid der anderen Kollegen, das dir durch deine “Mühsal” zuteil wird und der Kollege zieht sich vielleicht auch gerne in die Rolle des Trotzkopfs zurück, weil das auch etwas weniger Arbeit bedeutet.
Ein so gearteter Kreislauf hat jedoch, dies sei zur Warnung angefügt, eine eigene Dynamik: Wenn wir uns gegenseitig Eigenschaften zuschreiben, entfernen wir uns voneinander und verlieren den Kontakt - und damit die Empathie füreinander. Unsere Wahrnehmung wird verzerrt. Wir “erkennen” Bestätigungen für unsere Vorannahmen, wo ein neutraler Beobachter differenzierter hinsehen würde. Wir verlieren die Fähigkeit unser eigenes Denken und Handeln zu hinterfragen: Wir “müssen” ja so handeln, weil …
Dies führt häufig zu einer Zementierung der Zuschreibungen; der Kollege verhält sich nicht so, sondern er ist so.
Im besten Fall kann dieser Teufelskreis aufgelöst werden (z.B. mithilfe eines Coaches oder einer Mediatorin), im schlechteren Fall folgt auf eine anstrengende und zähe Zeit der “Zusammenarbeit” die Kündigung oder Versetzung einer der Beteiligten. Dies ist die wirtschaftlich und psychologisch teurere Variante, jedoch wieder eine “logische” Weiterentwicklung des Systems. Auch ein von den Beteiligten als unangenehm erlebtes System ist - sofern es nicht aktiv gestört wird - stabil.
Falls du solche Situationen kennst und diese aktiv angehen möchtest, sprich mich gerne an.
Als Systemische Beraterin arbeite ich mit Teams und Organisationen und unterstütze sie dabei, besser miteinander zu arbeiten (und zu leben). Zudem biete ich Einzelcoachings (z.B. in Bezug auf Veränderungen, Entwicklungen und Konflikte) und Mediation an.
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